Neulich saß ich beim Fußballspiel gegen Österreich mit einem Kumpel zusammen und wir unterhielten uns über die Wahl. Er war noch sehr unentschieden, was er wählen sollte und zeigte sich erstaunt davon, dass ich meine Stimme bereits abgegeben hatte: „Das könnte ich zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht.“
Im Laufe des weiteren Gesprächs kamen ein paar Themen zur Sprache, die ich gerne mit Frau Gombert und euch teile.
Taktisch wählen ist scheiße
Punkt. Das hat viele Gründe. Zuallerst einen moralischen. Gewählt wird, was laut aktueller Umfragesituation taktisch irgendwie noch am besten passt. Das kann keine solide Willensbekundung des Souveräns sein. Zudem bedeuten solche Wahlentscheidungen auch Rückkopplung: Die Umfragen verschieben sich in taktische Richtungen und sorgen somit wieder für andere taktische Konstellationen.
Bei der letzten Bundestagswahl sah man sehr gut, was es bedeutet, taktisch zu wählen: Viele Deutsche gaben der FDP ihre Stimme, weil sie es als einzige Möglichkeit sahen, die Weiterführung der Koalition aus SPD und CDU zu verhindern. Der Plan ging zwar auf, aber die FDP ging mit derart stolzgeschwellter Brust in die Regierung, dass es Mediendeutschland kaum aushalten konnte. Der Rest ist dem Politikinteressierten bekannt. Und am damaligen Parteivorsitzenden Guido Westerwelle sah man auch sehr gut, wo so eine Wahlaussage hinführt: „Niemand hat der FDP Stimmen geschenkt! Deutschland findet nur uns und unser Programm so cool!“ Das wird’s gewesen sein.
Zudem führt taktisches Wählen zu keiner großen Veränderung. Wenn man nur die Wahl zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün sieht – oder nach aktueller Umfragenlage vielleicht sogar nur zwischen … na ja. Zwischen was? Gelb, damit Schwarz nicht noch stärker wird? Wer einen politischen Wandel herbeiführen möchte kann mit einer solchen „Wahl“ nicht zufrieden sein. Was zudem ein weiterer wichtiger Punkt ist: Als Souverän des Staates kann niemand damit zufrieden sein, gegen – oder wenigstens nicht völlig für – seine Überzeugung zu wählen.
Kurzum: Wählt, was euch am besten passt!
Nichtwählen geht nicht
Dazu zählt – bitte gut aufpassen – auch eine ungültige Stimmabgabe. „Dann wähl halt/wenigstens ungültig.“ Ich höre das bei jeder Wahl erschreckend oft. Und muss jedes Mal widersprechen: Ungültig wählen bedeutet nicht zu wählen. Mehr nicht. Nähere Information hält Wahlrecht.de bereit (nicht halb so förmlich, wie es vielleicht klingt). Nicht oder ungültig zu wählen drückt auch keinen Protest aus. Es setzt auch keine Zeichen, sondern führt höchstens zu halbherzigen Wählermotivationsprogrammen oder aber auf lange Sicht zu einer Wahlpflicht. Aber wer soll sich denn an geringer Wahlbeteiligung stören? Diejenigen, die auch gerade dadurch gewählt wurden? Diejenigen, die davon profitieren, dass 40% auf dem Sofa blieben, statt die Konkurrenz zu wählen? Die Realtität ist: Die Parteien setzen darauf, ihre Wählerschaft zu mobilisieren. Der Rest darf gerne auf die Kundgebung ihres politischen Willens verzichten. Eine andere Sichtweise – und wir wissen, dass „die Politiker“ gerne dazu neigen, Sichten einzunehmen, die ihnen nutzen – wäre zu sagen, dass Menschen, die nicht wählen, wohl so wenig an der Politik interessiert sind, weil es ihnen in ihrem Leben schlicht gut genug geht. Also alles weiter so. So schnell wird aus vermeintlichem Protest eine Zufriedenheitsbekundung. Außerdem: Dadurch werden die Stimmen all der Idioten, die ihr kennt, gewichtiger. Will man so etwas wirklich?
Daher: Wer mit dem Gedanken spielt, nicht zu wählen, sollte lieber eine Proteststimme abgeben. Schaut euch den Stimmzettel an. Wenn ihr partout keine Ahnung/Lust/Motivation/… habt, wählt jemanden, dessen Namen euch gefällt. Dessen Parteiname euch sympathisch ist. Solange keine Parteien mit menschenverachtenden Ideologien gewählt werden, ist die Stimme dort am besten aufgehoben.
Des Weiteren ist nichtwählen ist vornehmllich ein Schichtenphänomen. Hauptsächlich wählen die bildungsfernen und finanzschwachen Schichten nicht. Also eigentlich gerade die Personen, die eigentlich besonders politischer Hilfe bedürften.
Zu guter Letzt schwächt jede Stimmabgabe extreme Parteien. Aus zwei Gründen: Erstens sind sie besser in der Lage, ihre Wählerschaft zu mobilisieren, zweitens partizipieren sie nur dann von der Parteienfinanzierung, wenn sie über 1% der abgegebenen Stimmen für sich behaupten können.
Nach Stimmung wählen ist sinnlos
Die Volksseele ist ein merkwürdiges Ding. Oft bildet sich ihre Stimmung aus der medialen Stimmung heraus – was gefährlich ist. „Was ist mit den Piraten?“, frage ich meinen Kumpel, als wir über konkrete Wahlalternativen sprechen. „Hm“, antwortet er zögerlich und weiß, dass er mir gegenüber eher reflektierte Meinungen äußern sollte, „ich weiß nicht. Sind die nicht alle so zerstritten? Das ist … hm … ja, das ist irgendwie das Letzte, was ich von denen gehört habe. Dass die zerstritten sind. Und sonst war es in letzter Zeit ja sehr ruhig. Trotz dieser ganzen Datenskandale!“
Erinnert sich noch jemand an die Stimmung vor vielen Monaten? Als die Piraten – die neuen Grünen, diese Visionäre, diese abgedrehten Nerds – bei 12% standen? Als der damalige Parteivorsitzende gefragt wurde, mit wem er sich eine Koalition vorstellen könnte? Als man keine Talkshow sehen konnte, in der nicht irgendein merkwürdiger, junger Mensch von den Piraten saß? Gibt’s die denn überhaupt noch? Na ja, irgendwer muss die Wahlplakate ja geklebt haben …
Dies, ihr Lieben, ist die Realität der Massenmedien. Das ist die Stimmung, die auch meinen Kumpel erfasst hat und der auf konkrete Nachfragen merkte, dass diesem Bild keine fundierte Ansicht – schon gar keine fundierte politische Sachlage – zugrunde lag, sondern eben nur eine bereits subtil festgeschliffene Meinung. Beschäftigt man sich ein wenig mit dem gezeichneten Bild, stellt man fest, dass es schlicht falsch ist. Besonders abstrus liest sich ein zwei Monate alter Artikel von Daniel Schwerdt, in dem vor allem die geschilderte Redaktionsreaktion traurig stimmt. Und … irgendwie auch belustigt.
Auch Steinbrück ist von Anfang an runtergeschrieben worden. Jede läppische Bemerkung ist aufgeblasen und tagelang durchs Dorf getrieben worden, bis man etwas Neues gefunden hat, was sich für diese Aufgabe lohnte.
Und zwischenzeitlich lag auch die FDP im Bundestrend bei 2–3%. Als man schon darüber spottete, dass die Liberalen ja eigentlich mit den in Balken der sonstigen Parteien aufgenommen werden könnten.
Hat sich seit diesen Zeiten, die alle gar nicht so lange her sind, so viel verändert? Es gibt noch eine Vielzahl anderer Beispiele, die alle nur folgende Aussage machen sollen: informiert euch! Sei es der Wahl-O-Mat, ein bisschen Recherche, Gespräche mit politisch interessierten Freunden, das Blättern durch Wahlprogramme, die Begutachtung der Antworten und Abstimmungsverhalten bei Abgeordnetenwatch oder eine Kombination daraus: Bildet euch eine aufgeschlossene Meinung, die nicht darauf beruht, was ihr gerade so „fühlt“ oder „glaubt“. Macht euer Wahlverhalten nicht davon abhängig, in welchem Status sich Deutschlands Willenbildung gerade befindet oder wer gerade klein- oder großgeschrieben wird. Denn natürlich ist auch das andere Extrem möglich. Für die Berliner Piraten war bei den letzten Abgeordnetenhauswahlen die 5%-Hürde ein realistisches, wenn auch ambitioniertes Ziel. Das damals phänomenale Ergebnis von 8,9% hingegen war letztlich schlichtweg auf den guten Willen der Medien zurückzuführen, die viel Aufmerksamkeit auf die orangefarbenen Flaggen richtete.
Wählt ruhig – und gerade! – die „Kleinen“
„Ich weiß nicht“, sagt mein Kumpel kleinlaut, „Die Linke will ich nicht wählen. Mit denen kann man derzeit doch gar nicht regieren. Gerade im Westen sind die doch unterwandert von so merkwürdigen linken Strömungen. Und bei den Piraten hab ich Angst, dass ich dann meine Stimme abgebe und die dann bei 4% stehen und meine Stimme umsonst war.“
Auch hier gibt es wieder eine Vielzahl verschiedener Argumente. Zuerst wieder das moralische: Will wirklich jemand lieber das „kleinere Übel“ als nach seiner Überzeugung wählen? Ansonsten trifft hier natürlich auch der erste Punkt zu, denn zumindest das Abwägen über die 5%-Hürde ist eine taktische Abwägung.
Darüber hinaus hat sich im letzten Jahrzehnt mein politisches Verständnis sehr gewandelt. Es geht tatsächlich nicht mehr darum, wen man gerne ins Kanzleramt bringen möchte, sondern darum, welche politische Richtung man dem Land geben möchte. Was das heißt? Ein Gedankenspiel: Nehmen wir an, die Piraten und die Linken erreichen jeweils 20% bei der nächsten Bundestagswahl, aber an den Regierungsparteien ändert sich nichts, da Rot-Grün ziemlich abgestürzt sind und der Verlust von Schwarz-Gelb nur dazu geführt hat, dass die Mehrheit im Bundestag lediglich zwei Sitze beträgt. Die Regierung wäre dieselbe – aber meint ihr wirklich, die Politik wäre es auch? Sicherlich nicht. Alleine aus Machterhaltungstrieb wären die zukünftigen Bestrebungen darauf ausgerichtet, die Kontrahenten wieder möglich klein zu halten. Vielleicht wäre der Überwachungsskandal nun doch ein größeres Thema und … wer weiß? Vielleicht gäbe es sogar einen moderaten Mindestlohn von 7,50 €? Natürlich ist das sehr vereinfacht und unsinnig-übetrieben dargestellt. Aber so funktioniert politische Willensbildung – vor allem unter der Regierung Merkel. Man versucht die Kontrahenten zu schwächen und ihre Themen zu entkräften, indem man diesen Positionen entgegenkommt. Wer die Linken wählt, will vielleicht gar nicht, dass Die Linke eine Regierungspartei wählt. Aber er ruft den Oberen ins Gedächtnis, dass die Sozialpolitik zu kurz kommt. Und gerade im Hinblick auf die nächsten Wahlen würde sich so eine Regierung sehr gut überlegen, ob man die gerade neu angedachten ALG-II-Gängeleien nicht vielleicht doch erstmal sein lässt. Auch das ist ein Wahlerfolg. Es ist Protest und politische Willensbildung – wenn auch nicht so medienwirksam.
Zum Schluss spielt auch ein finanzieller Aspekt eine Rolle. Stimmen bringen den Parteien Geld. Nicht nur abstrakt, sondern auch direkt über die Parteifinanzierung. Das bedeutet: Ohne nennenswerten Aufwand ist es möglich, für seine Überzeugung zu spenden.
Fassen wir zusammen: eine Stimme für eine kleine Partei bedeutet finanzielle und moralische Unterstützung der Sache, Protest und die Mitteilung des politischen Willens. Es ist nicht laut, nicht spektakulär und hat erstmal nur abstrakte Auswirkungen. Aber selbst unter der 5%-Hürde bleiben diese Vorteile noch vorhanden.
Parteiprogramme sind nicht alles
„Die Grünen könnte ich mir ja auch vorstellen, aber was die da mit dem Spitzensteuersatz vorhaben … Ich meine, der zieht schon viel früher, als man gemeinhin denkt. Da wären auch viele betroffen, die man nicht unbedingt als ‘reich’ bezeichnen würde.“
Die politische Kultur in Deutschland hat vor allem ein großes Problem: Jede Partei schreibt ihr Partei- und Wahlprogramm so, als gehörte ihnen nach der Wahl die Alleinherrschaft. Nach aktuellem Stand wird dies wohl keiner Partei vergönnt sein – schon gar nicht den Grünen. ;-) Daher ist es wichtig, das „große Ganze“ hinter den Programmen zu erkenne. Von welchem Menschenbild geht man aus? Wie wird man mit dieser Ideologie wohl auf neue Probleme reagieren? Wie wichtig sind einzelne Punkte und wie gnadenlos wird man um diese bei möglichen Koalitionsverhandlungen feilschen? Bei der letzten Wahl wollten die Grünen den Soli abschaffen und direkt in Bildung investieren. Wär wäre ihnen bei diesem Weg gefolgt? Bei den Piraten steht irgendwo das bedingungslose Grundeinkommen. Wer würde dies denn ernsthaft mittragen? Es finden sich immer einzelne Punkte, die einem missfallen – aber gerade bei großen und einschneidenden Veränderungen müssen diese auch gesellschaftsfähig sein. Und genau das spiegelt sich in der Wahl möglicher Koalitionspartner wider. Im Volkswillen.
Dies ist nicht für euch
Die meisten von euch, die diesen Text bis hierhin gelesen haben, werden wahrscheinlich nur bedingt betroffen sein. So, wie ich mit meinem Kumpel gesprochen und diskutiert habe, solltet auch ihr eure Gedanken mit den Menschen abseits des Netzes teilen. Denn wir „Netzmenschen“ ™ sind immer noch klar in der Unterzahl – und gerade bei den Nichtwählern ist es wichtig, ihnen die Mechanismen zu vermitteln, die dazu führen, dass auch niemand ein Interesse hat, ihnen eine Wahl schmackhaft zu machen, wenn sie nicht eben doch wählen.
In diesem Sinne: spread the word. Nicht unbedingt meins – sondern überhaupt politisches. Wenn ich ein paar Gedanken dazu beisteuern konnte: umso besser.